Werkstattgespräch „Überdehnen und Verbiegen“ – Münsteraner Schüler*innen berichten über ihre Geschichtsforschung
Im Rahmen der Ausstellung „Zwischen Erfolg und Verfolgung“, die wir gemeinsam mit einem breiten Netzwerk vom 26.6. bis zum 25.7. auf dem Überwasserkirchplatz zeigen, hat Gegen Vergessen Für Demokratie e.V. Münsterland zu einem Talkformat über Sport und Spiel, Körper- und Führerkult in der NS-Zeit eingeladen.
Am 1. Juli fand das Werkstattgespräch mit Münsteraner Schüler*innen, die am Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten teilgenommen haben, als Begleitveranstaltung zu der Ausstellung „Zwischen Erfolg und Verfolgung“ im Gemeindesaal der Kirchengemeinde Liebfrauen-Überwasser statt. Gegen Vergessen Für Demokratie e.V. Münsterland ist Mitveranstalter der Ausstellungsumsetzung in Münster. „Für Fairplay, Toleranz, Rechtsstaatlichkeit und Religionsfreiheit müssen alle in der Gesellschaft stets aufs Neue gemeinsam die Muskeln spielen lassen und fortdauernd hart trainieren – deshalb faszinierte uns zu hören und zu lesen, dass Jugendliche sich als Forscherinnen und Forscher zur Sporthistorie so intensiv betätigt haben in der Stadt. Auch harte Arbeit für Höchstleistungen mit Kopf, Herz und Hand“, findet Stefan Querl, der mit Ursula Brenken in Münster das Sprecheramt der überparteilichen Vereinigung Gegen Vergessen Für Demokratie innehat. „Die Jugendlichen engagierten sich für den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten, teils aber auch darüber hinaus, etwa im Blick auf die eigene Schule. Geschichtsbewusstsein bestimmt immer auch den Grad der Offenheit eines Gemeinwesens, zum Beispiel auch für eher schwierige Fragen oder harte Verwerfungen, die es in der Vergangenheit gab. Etwa durch den Antisemitismus im NS-Staat, vor- und nachher.“
Bei der Veranstaltung berichteten die Münsteraner Nachwuchs-Historiker*innen Junia Dierker, Severin Bohn und Victoria Skalec über ihre Forschungen zum Geschichtswettbewerb, der in diesem Jahr unter dem Motto „Bewegte Zeiten. Sport macht Gesellschaft“ stattfand. Stefan Querl von der Villa ten Hompel und Dr. Philipp Erdmann vom Stadtarchiv Münster moderierten das spannende Gespräch. Beide Einrichtungen unterstützen die Umsetzung der Ausstellung „Zwischen Erfolg und Verfolgung“ in Münster, ebenso wie die Katholische Kirchengemeinde Liebfrauen-Überwasser, als Kooperationspartner. Alle weiteren Partner*innen und Infos zur Ausstellung findet Ihr hier.
„Mit großer Neugier und beeindruckendem Durchhaltevermögen haben Schülerinnen und Schüler im Rahmen des Geschichtswettbewerbs um den Preis des Bundespräsidenten über mehrere Pandemiewellen hinweg eigenständig nach Spuren des Sports in unserer Geschichte gesucht. Diese Forschungen leisten einen wichtigen Beitrag zu unserer städtischen Geschichtskultur. Denn sie haben fast vergessene Biographien zurück an die Öffentlichkeit gebracht, oder sie regen uns auf kreative Art und Weise zum Nachdenken über Fairness und Regelverstöße in Vergangenheit und Gegenwart an“, erklärt Dr. Philipp Erdmann, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Stadtarchiv viele Teilnehmende bei ihren Recherchen begleitet hat. Insgesamt 113 Arbeiten haben über 200 Schüler*innen aus Münster erfolgreich eingereicht – das ist bundesweit spitze. Bei der Veranstaltung am 1. Juli wurden drei herausragende Beiträge, die sich mit der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigen, vorgestellt.
Junia Dierker setzte sich in ihrer Arbeit am Beispiel ihrer eigenen Schule, dem Ratsgymnasium Münster, mit dem Turnunterricht im Nationalsozialismus auseinander. Junia interessierte dabei vor allem die Frage, wie der Sportunterricht im Nationalsozialismus ideologisch vereinnahmt wurde, um Jugendliche mit der Ideologie in Kontakt zu bringen und sie von ihr zu überzeugen. Ein Großteil der Schulakten wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, so dass Junia für ihre Forschung unter anderem auf die Akten des Landesarchivs zurückgriff. Sie arbeitete heraus, dass der Sport im Ratsgymnasium während der NS-Zeit zum „quantitativ höchstwertigsten“ Fach aufstieg und die Sport-Zensur den Schülern – das Ratsgymnasium war damals eine reine Jungenschule – von nun an ganz oben auf das Zeugnis gesetzt wurde. Der Turnunterricht wurde strukturell und personell gleichgeschaltet und der Körper der Schüler, und nicht das einzelne Individuum, rückte in den Fokus. Nach den Reichspogromen wurde am Ratsgymnasium der endgültige Ausschluss von jüdischen Schülern aus dem „arischen Schulsystem“ durchgesetzt. Junia hätte sich in ihrer Arbeit sehr gerne noch näher mit der politischen Gesinnung der damaligen Turnlehrer auseinandergesetzt. Die Quellenlage lies das leider nicht zu, aber Junia stellt fest, dass der regimetreue Lehrkörper bereits 1934 als „Hochburg des nationalsozialistischen Geistes“ gefeiert wurde. In ihren Ausführungen weist Junia nicht nur auf Brüche, sondern auch auf Kontinuitäten hin: Schon vor dem Nationalsozialismus spielten Wehrhaftigkeit und militärische Tradition im Sport eine Rolle, der ideologische Aspekt wurde mit der Machtübergabe an die Nationalsozialisten jedoch ein anderer.
Severin Bohn vom Schillergymnasium ging in seinem Wettbewerbsbeitrag der Frage nach, wie ein Münsteraner Arzt Jesse Owens bei Olympia 1936 half. Als Severin Bohn das Thema des diesjährigen Geschichtswettbewerbs erfuhr, kamen ihm direkt die Olympischen Spiele von 1936 in den Sinn. Seine Sorge, das Thema sei für seinen Beitrag zum Geschichtswettbewerb nicht geeignet, da die Beiträge einen regionalen oder familiären Bezug aufweisen müssen, konnte ihm Dr. Emanuel Hübner vom Institut für Sportwissenschaft an der Uni Münster nehmen. Über Dr. Hübner erfuhr Severin von dem Münsteraner Mediziner Alfred Koch, der 1936 als Arzt im Olympischen Dorf tätig war und hier Athleten medizinisch versorgte. Im Mittelpunkt von Severins Arbeit steht ein Foto, auf dem Alfred Koch zu sehen ist, wie er einen Sportler am Ohr behandelt. Dass auf dem Bild möglicherweise der Afroamerikaner Jesse Owens mit dem deutschen Soldaten und Nutznießer des Nationalsozialismus Alfred Koch zu sehen ist, drei Jahre vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, hat Severin fasziniert. Letztlich ließ sich die Frage, ob das Foto wirklich die Leichtathletik-Legende Jesse Owens zeigt, trotz intensiver Recherchen allerdings nicht mit Sicherheit bejahen. Für seine Forschungsarbeit hat Severin sich sogar mit der Tochter von Alfred Koch getroffen und von ihr die Biographie ihres Vaters erhalten. Die mögliche Begegnung mit Jesse Owens wird hier jedoch mit keinem Wort erwähnt und Koch selbst hat die Frage, ob er Owens behandelt hat, bis zuletzt unbeantwortet gelassen.
Victoria Skalec von der Friedensschule erforschte in ihrem Beitrag die Lebensgeschichte des berühmten Motorradfahrers Leo Steinweg, der 1906 in Münster geboren wurde und dessen große Karriere als Rennfahrer durch den Nationalsozialismus gewaltsam beendet wurde. Victoria entschied sich bewusst dazu, keine Facharbeit zu schreiben, sondern sich dem Thema ihrer Arbeit kreativ zu nähern. Mit einem emotionalen und persönlichen Zugang schildert Victoria in der Ich-Perspektive eindrücklich die Flucht- und Verfolgungsgeschichte der Rennfahrerikone Leo Steinweg. Zentrale Quelle für Victorias Beitrag sind die Memoiren von Emmy Herzog, der Ehefrau von Leo Steinweg. Victoria hat sich darüber hinaus durch zahlreiche Dokumentarfilme über den Nationalsozialismus gearbeitet. Anhand einer Dokumentation über die Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz versuchte Victoria zu ergründen, wie sich Leo Steinweg während seiner eigenen Gefangenschaft in Auschwitz gefühlt haben könnte. Am Ende ihres Vortrags resümiert Victoria: „Am Beispiel von Leo Steinweg sehen wir, dass Ausschluss aus dem Sport auch immer Ausschluss aus der Gesellschaft bedeutet. Leos Lebens ist erschreckend, aber es zeigt, wie wichtig es ist, dass wir es nicht vergessen und sein Schicksal auch nicht.“
Eine kleine, feine Geschichtswerkstatt war das – Danke allen Beteiligten und heute nun gelungenen Start in die Schulferien. Auf bald wieder sagt Stefan