Der Westfälische Frieden – ein Beispiel für Toleranz?

Liebe Leser*innen des Friedensblogs,

In meinen früheren Beiträgen habe ich Euch ja schon erzählt, dass Münster und Osnabrück als Träger des Europäischen Kulturerbe-Siegels auch Mitglied bei EHL@N sind. EHL@N ist ein Zusammen­schluss mehrerer Siegel-Träger, die es sich zur Auf­gabe gemacht haben, gemein­sam ein nach­haltiges euro­päisches Netz­werk zu bilden und die Koope­ration zwischen den Siegel-Stätten zu ver­bessern. 2015 wurden die Rat­häuser von Münster und Osnabrück als „Stätten des Westfälischen Friedens“, dem ersten Verhand­lungs­frieden in der Geschichte Europas, mit dem Euro­päischen Kultur­erbe-Siegel aus­gezeich­net.  Weitere Infos zum Euro­päischen Kultur­erbe-Siegel findet Ihr auch in diesem Beitrag.

Die Mitglieder von EHL@N haben sich schon an ver­schie­denen Orten in Europa ge­troffen. Seit der COVID-19-Pandemie sind solche Treffen natürlich nicht mehr möglich und so verab­reden wir uns jetzt regel­mäßig zu Online-Meetings. Bei den Meetings sprechen wir dann zum Beispiel über den Arbeits­stand in den jewei­ligen „Workgroups“, die sich ge­bildet haben, um gemein­sam an ver­schiedenen Schwer­punkt­themen zu arbeiten. Hier gibt es zum Beispiel eine Gruppe, die sich mit der Instand­haltung historischer Gebäude be­schäf­tigt. Andere Stätten beraten über Ziel­gruppen­entwick­lung. Münster und Osnabrück sind in der Gruppe „European Values & EHL sites“ aktiv, das heißt, wir beschäf­tigen uns mit europäischen Werten.

Die Werte, um die es beim Euro­päischen Kultur­erbe-Siegel geht sind Freiheit, Demokratie, Menschen­rechte, kulturelle und sprachliche Vielfalt, Toleranz und Solidarität. In unseren Meetings diskutieren wir unter anderem darüber, was unter den jeweiligen Werten zu ver­stehen ist und für welchen Wert die einzelnen Siegel-Stätten stehen. Das ist tatsäch­lich gar nicht immer so einfach, denn zum einen stehen viele Stätten für mehrere Werte und zum anderen ist unser zeit­ge­nössisches Ver­ständ­nis dieser Werte nicht immer ohne weiteres auf das, wofür die Stätten stehen, zu übert­ragen; denn viele Stätten stehen für Ereignisse, die bereits viele Jahrzehnte oder Jahrhunderte zurück­liegen und seitdem hat sich unsere Vor­stellung von Freiheit, Toleranz oder auch Vielfalt natürlich verändert.

Gleichzeitig ist es genau dieser Punkt, der die Auseinan­dersetzung mit diesen Fragen so interessant macht, denn die Ereig­nisse und Ideen, für die die Euro­päischen Kultur­erbe-Siegel-Stätten stehen, haben ja gerade dabei geholfen und dazu bei­getragen unser heutiges Verständ­nis von Europa und den euro­päischen Werten zu formen. So ist es zum Beispiel auch beim West­fälischen Frieden. Gemein­sam mit den anderen Netz­werk-Mitgliedern haben wir darüber diskutiert, für welchen der Werte die Rathäuser in Münster und Osnabrück, stell­vertretend für den Friedens­schluss stehen. Letztlich entschieden sich die meisten von uns für den Wert Toleranz, aber einfach und eindeutig war es nicht.

Überlegungen und Gedanken zur Idee der Toleranz füllen ganze Biblio­theken, was genau unter dem Begriff zu verstehen ist, kann nicht pauschal gesagt werden. Das Wort Toleranz kommt vom lateinischen „tolerare“, was so viel wie „erdulden“ oder „ertragen“ bedeutet. Aber geht es bei der Toleranz nur darum, etwas aus­zu­halten? Unser heutiges Ver­ständnis von Toleranz geht ein Glück über diese Idee hinaus. Toleranz steht heute auch für An­erkennung und Respekt. Am 16. November 1995 einigten sich die Mitglied­staaten der UNESCO auf eine gemein­same „Erklärung von Prinzipien der Toleranz“ (seitdem feiern wir jedes Jahr am 16. November den „Inter­nationalen Tag der Toleranz“). In dieser Erklä­rung heißt es: unter anderem: „Toleranz bedeutet die Aner­kennung der Tat­sache, daß alle Menschen, natürlich mit allen Unter­schieden ihrer Erscheinungs­form, Situation, Sprache, Verhaltens­weise und Werte, das Recht haben, in Frieden zu leben und so zu bleiben, wie sie sind.“

In den West­fälischen Friedens­verträgen von 1648 wurde die Gleich­berechti­gung von Katholiken, Lutheranern und Calvinisten fest­ge­halten. Auße­rdem schützen die Ver­träge die Unter­tanen bei einem Konfessions­wechsle ihres Landes­herrn: wechselte dieser die Glau­bens­richtung, so mussten seine Unter­tanen diesen Konfessions­wechsel nun nicht mehr mit­machen. Des Weite­ren legte der West­fälische Friede fest, dass anders­gläubige Unter­tanen ihren Glauben privat frei aus­üben können sollten. Das galt aller­dings nur für die drei genannten großen Konfessionen. Andere Glaubens­richtungen waren hier nicht gemeint. Von einem moder­neren Toleranz-Begriff, wie er zum Beispiel in der UNESCO-Erklärung von 1995 zu finden ist, waren die Friedens­verträgen von 1648 demnach noch weit entfernt. Dass es aber über­haupt zu einem Friedens­schluss und den in den Verträgen fest­gehaltenen Eini­gungen und Kompro­missen kommen konnte, war für die damalige Zeit alles andere als selbst­verständlich.

Dass die Verhand­lungen in Münster und Osnabrück ein Erfolg wurden, kann auch auf die Beharr­lichkeit und Aus­dauer der Gesandten, die aus ganz Europa nach West­falen ge­kommen waren, zurück­geführt werden. Denn obwohl der Kongress mehr­mals zu scheitern drohte, blieben sie miteinander im Gespräch – trotz unter­schied­licher Konfessionen, Ab­sichten und Ziele. Der Wunsch nach Frieden war nach dem dreißig Jahre anhalten­den Kriegs­geschehen groß und so bemühten sich die Gesandten letzt­lich um pragma­tische Lösungen, um diesen euro­päischen Krieg gemein­sam zu beenden. Die Suche nach (religiösen) Wahr­heiten wurde dabei letztlich aus­geklammert und religiöse Fragen sollten auch in Zukunft hinter Politische zurück­treten. Die temporären pragmatischen Lösungen, die in Münster und Osnabrück gefunden wurden, um den Krieg zu beenden, führten letztlich zu lang­fristigen Strategien für eine Friedens­sicherung in Europa: Die Idee, Frieden auf der Grund­lage von Ver­hand­lungen und Kompro­missen zu schließen und das Format euro­päischer Gesandten­kongresses. Weitere Informa­tionen hierzu und zu den anderen Ergeb­nissen der West­fälischen Friedens­verhandlungen findet Ihr hier.

Mit der pragmatischen Vorgehens­weise der Friedens­gesandten, die auch das Aus­klammern und damit Aus­halten religiöser Unter­schiede bein­haltete, kann der Westfälische Frieden also eventuell als ein Schritt hin zu einem moderneren Verständ­nis von Toleranz ange­sehen werden. Auch in der UNESCO-Erklärung von 1995 heißt es: „Ohne Toleranz gibt es keinen Frieden“. Die gesamte „Erklärung von Prinzipien der Toleranz“ könnt Ihr hier nachlesen.

Es ist schon wirklich toll, dass wir bei unseren Treffen mit Kolleg*innen aus Tschechien, Italien, Rumänien, Österreich, Polen, Frankreich, Spanien, Ungarn, Deutschland, Slowenien, Portugal und Estland über diese Fragen debattieren. Natürlich sprechen wir bei unseren Treffen aber nicht nur über den West­fälischen Frieden. Wir diskutieren auch darüber, ob die Residencia de Estudiantes in Madrid eher für Freiheit oder für Menschen­rechte steht und ob die Wiener Hofburg als ein Beispiel für kulturelle und sprachliche Vielfalt oder eben auch für Toleranz gesehen werden kann.

Ich bin sehr gespannt darauf, wie es in unserer „Workgroup“ weitergeht und freue mich, dass ich Euch hier einen kleinen Einblick geben konnte.

Mehr Infos zu EHL@N gibt es hier und alle Kulturerbe-Siegel-Stätten findet Ihr auf dieser Karte.

Und hier noch ein kleiner Tipp: Die Kontaktstelle „Studium im Alter“ der WWU Münster startet am 19. April die Online-Vortragsreihe „Einfach kompliziert. Interdisziplinäre Gedanken zur Toleranz“. Wer mehr wissen will, schaut hier vorbei.

Viele Grüße!

Anne

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