Religion und Pluralismus. Welche Lehren können wir aus der Antike ziehen?
Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Daniela Bonnano und Prof. Dr. Corinne Bonnet
Dies ist der erste der bereits versprochenen Gastbeiträge aus der Veranstaltung „Frieden. Pluralismus. Offene Gesellschaften – Der Umgang mit religiöser Vielfalt‟, die am 18. Februar im Erbdrostenhof stattfand.
Die Antike bietet viel Stoff zum Nachdenken über die Frage des religiösen Pluralismus – und zwar vor allem deshalb, weil die polytheistischen Religionen von Natur aus auf Pluralität aufgebaut sind. Der Polytheismus wird in der Antike als ein offenes System göttlicher Wesenheiten verstanden, die mit der Fähigkeit ausgestattet sind, in der Welt und auf das menschliche Schicksal einzuwirken; und die Menschen treten mit ihnen, den Göttern, durch ganz verschiedene Rituale in Verbindung.
Es sind die Bedürfnisse menschlicher Gesellschaften – Einzelpersonen oder Gruppen -, die die Zusammensetzung des sogenannten „Pantheons“ einer Stadt, eines Königreichs, eines Volkes bestimmen. Der Zugang zur „Religion“ – ein moderner Begriff, den es in den alten Sprachen nicht gibt – ist, mit anderen Worten, nicht dogmatisch, sondern pragmatisch.
Dementsprechend gibt es in der Antike so viele Götter wie Lebensumstände, in denen ihre Hilfe benötigt wird: Krankheit, Reisen, politische Entscheidungen, Geburt oder Tod, Bündnisse oder Kriege, Stadtgründungen oder Unternehmensgründungen etc.
So gibt es im Töpfereihandwerk viele göttliche Wesenheiten, die dem Töpfer helfen oder auch schaden können, z. B. den Ofenzerstörer, den Rissmacher, den Zertrümmerer, den Zu-Heiß-Macher, den Alles-Zerbrecher und den Tonbrenner (Vgl. Das Leben von Homer, 32 Allen).
Es gibt also zahllose Götter. Und darüber hinaus ist zu bedenken, dass auch noch jede Gottheit in der antiken Welt plural ist, da sie ein breites Spektrum an Funktionen ausübt und so vielfältige Gestalten annehmen kann, wie es die verschiedenen lokalen Kontexte erfordern, in denen sie jeweils verankert ist.
Zeus ist eins und plural, gerade weil er von allen Gottheiten der mächtigste und der vielgestaltigste ist. Das immense Spektrum seiner Vielgestaltigkeit kommt insbesondere in den Beinamen – den Epiklesen – zum Ausdruck, die in Weihungen und Anrufungen mit seinem Namen verbunden werden. Für Zeus allein gibt es mehrere hundert Beinamen, einige sehr häufig, die von der Tradition vorgeschrieben sind, andere sind seltener und entspringen der Kreativität derer, die sich an ihn wenden, wie etwa im Fall vom „Zeus der Zwillingseichen“ oder „Zeus der strahlenden Quellen“ (Cf. Supplementum Epigraphicum Graecum 33, 1012; 39, 1565).
In dieser „utilitaristischen“ Perspektive waren auch fremde Gottheiten willkommen, wenn sie nur den Bedürfnissen der Menschen entgegenkamen, die sie dann an Altären, in Heiligtümern, an Orakelstätten oder in Nekropolen verehrten. So wurde in Syrien in Abila der bereits erwähnte Zeus der strahlenden Quelle mit dem ägyptischen Gott Apis verbunden, der als „himmlisch“ bezeichnet wird. Solche Kohabitationen zwischen Gottheiten aus verschiedenen Regionen waren häufig und recht harmonisch. Plato zum Beispiel spricht von einer solchen Gegebenheit zu Beginn seiner „Politeia“ (327a), wo er Sokrates bei der Prozession zu Ehren der thrakischen Göttin Bendis im Piräus, dem großen kosmopolitischen Hafen von Athen, darstellt:
„Ich ging gestern mit Glaukon, dem Sohne des Ariston zum Peiraieus hinab, um zu der Göttin zu beten [gemeint ist die thrakische Göttin Bendis], und gleichzeitig wollte ich sehen wie sie das Fest durchführen, das sie ja jetzt zum erstenmal begehen. Den Festzug der Einheimischen fand ich wirklich schön, aber der, den die Thraker aufführten, machte einen ebenso prächtigen Eindruck. Als wir nun gebetet und der Feier zugeschaut hatten, gingen wir wieder der Stadt zu.“ (Übers.: R. Rudener)
Obwohl es sich um zwei verschiedene Aufzüge handelt, ist es dieselbe thrakische Göttin Bendis, die gefeiert wird und an die Sokrates spontan ein Gebet richtet. Die gesamte „Umgebung“ wird mobilisiert und nimmt an dem Fest teil, sogar die Athener, die auf diese Weise die fremde Göttin angenommen hatten, die im 5. Jhd.v.Chr eingeführt wurde.
In der Regel koexistierten die Kulte, die traditionellen und die aus Ägypten oder Libyen, Phönizien oder Zypern stammenden, friedlich, auch weil die fremden Gottheiten den einheimischen gleichgestellt wurden. Bendis wurde beispielsweise in einer sehr ähnlichen Weise wie Artemis dargestellt; eine gewisse funktionale Ähnlichkeit zwischen ihnen wurde erkannt, ohne sie jedoch zu verwechseln oder zu „vermischen“ (kein „Synkretismus“!) (Vgl. C. Bonnet, Pour en finir avec le syncrétisme: partir des textes pour comprendre les convergences entre divinités, La Parola del Passato 77 [2022], 171-191).
Diese besondere Form einer harmonischen Koexistenz war das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses, der darauf abzielte, eine fremde Macht erkennbar zu machen und sie einer des eigenen Pantheons anzugleichen. Deshalb spricht man von interpretatio. Im Gegensatz zu den monotheistischen Religionen, die auf einer geoffenbarten Wahrheit und auf die Autorität eines schriftlichen Textes gegründet sind, beruhte Religion in der Antike auf einer Vielzahl familiärer, lokaler und überregionaler Traditionen, die eine große Offenheit gegenüber anderen erlaubten. Daraus erklärt es sich auch, warum der Begriff des „Religionskriegs“, wie wir ihn heute verstehen, der antiken Welt weitgehend fremd war. Die Annahme eines Kultes oder die Integration fremder Gottheiten in das eigene Pantheon waren keine Streitfrage. Ganz im Gegenteil: Die Gottheiten der Feinde wurden manchmal sogar durch besondere Rituale angerufen, damit sie aufhörten, sie zu unterstützen, und zur gegnerischen Seite übertraten. Das bedeutet nicht, dass es keine Konflikte gab: Die antike Welt war vielmehr von tiefen Spannungen und blutigen Kriegen dramatisch geprägt. Aber man bediente sich eben nicht des Krieges und der militärischen Auseinandersetzung, um die eigene Religion gegenüber der anderen durchzusetzen.
Wie wir gesehen haben, durchdringt die Religion alle Aspekte der Lebenswelt und wurde auch in den friedensstiftenden Prozessen eingesetzt, wo kreative und überraschende Lösungen gefunden wurden. Die Analyse dieser Prozesse verleiht – gerade in der heutigen Zeit – den Lehren, die wir aus der Antike ziehen können, einen zusätzlichen Wert.
Um dies besser zu erklären, werden wir als eine kleine Beispielstudie einen Ausflug nach Sizilien vorschlagen, wo die kleine Stadt Nakone, deren Geschichte und geografische Lage praktisch unbekannt sind, zum Experimentierfeld für einen einzigartigen Friedensprozess wurde. Von diesem Ort stammt eine jetzt leider verlorene Inschrift, die auf einer Bronzetafel eingraviert war, deren der Text erst vor kurzem nach einer komplizierten Affäre um Diebstahl und Entwendung von Kulturgütern, die die Form einer Spionage-Geschichte hat, der Wissenschaft wieder zugänglich gemacht wurde. Sie (ISegest. App. 3) enthält einen Beschluss der Bürgerschaft von Nakone, der auf eine sehr kritische interne Situation schließen lässt. Aus dem Text geht hervor, dass sich diese Gemeinschaft in einer Art Bürgerkrieg befand, was auf Griechisch normalerweise mit dem Wort „Stasis“ bezeichnet wird. Die Bewohner von Nakone benutzen jedoch in diesem Beschluss ein anderes Wort: „Diaphora“ (der Dissenz): eine Meinungsverschiedenheit über die Verwaltung der öffentlichen Geschäfte, die zu Uneinigkeit und bitterem Streit zwischen den verfeindeten Parteien führt.
Es war daher notwendig, eine Politik der Versöhnung zu betreiben, die in Griechenland manchmal in Form einer Amnestie, d.h. einer Verpflichtung zum Verzicht auf die Erinnerung der erlittenen Übel annahm (me mnesikakein).
Um die Aussöhnung effektiver zu gestalten, wenden dann die Bürger von Nakone ein komplexes Auslosungssystem an, das auf eine grundlegende Neukonstituierung der Bürgerschaft abzielte, indem die Mitglieder der gegnerischen Parteien zu völlig neuen gemeinsamen Gruppierungen zusammengeschlossen wurden – quasi eine fiktive Verbrüderung durch Auslosung. Es war eine tiefgreifende Umgestaltung der Bürgerschaft, die auf ausgelosten Gruppen von „Wahlbrüdern“ beruhte (adelphoi hairetoi): eine im eigentlichen Wortsinne echte Wahlverwandtschaft.
Diese neue Gestalt der Bürgerschaft von Nakone wurde dann durch die Einrichtung von Opfern und Festen zu Ehren der Ahnen und der Homonoia, der lateinische Concordia, besiegelt. Homonoia ist eine Figur, der in der griechischen Welt der Status einer Gottheit zuerkannt wurde, und zwar aufgrund jener übermenschlichen Kraft, die einem Zusammengehörigkeitsgefühl zuerkannt wurde und die in der Lage war, Meinungs-verschiedenheiten und Spannungen im Namen eines höheren Gutes zu überwinden.
Wir wissen weder, was das weitere Schicksal der Bürger von Nakone war, noch ob das politische Experiment erfolgreich war, das den durch Losentscheid herbeigeführten politischen Zusammenschluss von Menschen vorschlug, die gegensätzlichen Gruppen angehörten.
Dennoch bleiben die Vorgänge in Nakone, soweit wir sie nachvollziehen können, ein eindrucksvolles Beispiel für die Überwindung politischer und religiöser Meinungs-verschiedenheiten.
Die Entschlossenheit, Zwietracht durch Amnestie für vergangene Übel zu überwinden, der Wille nach politischer Eintracht, der Homonoia, und das Bemühen um die Kenntnis und Anerkenntnis der Gottheiten der anderen gehören daher zu den wichtigsten Lehren, die wir aus der Antike ziehen können. Es ist bezeichnend, dass der Amnestie in den Verhandlungen des Westfälischen Friedens eine entscheidende Rolle zukam und Amnestie zu einem Kernbegriff des Friedensvertrages wurde.
Amnestie und Homonoia sind bewusste Alternativen zu dem Begriff der „Toleranz“. Ein Begriff, der sehr alte Ursprünge hat. Wie der italienische Wissenschaftler Maurizio Bettini in einem lesenswerten Buch mit dem Titel Elogio del Politeismo (Bologna 2014) darlegt, leitet sich die Etymologie des Begriffs vom lateinischen Verb „tolero“ ab: mit Geduld ertragen. Augustinus verwendet dieses Verb in Bezug auf die Haltung gegenüber Andersdenkenden innerhalb des Christentums selbst, also gegenüber Häretikern (Aug. Ep. 44, 11).
Der Begriff der Toleranz geht allerdings von der angenommenen Überlegenheit derjenigen aus, die ihren religiösen Überzeugungen den Status der Wahrheit zuweisen, aber im Namen der Nächstenliebe andere Religionen als die eigene „tolerieren“, d.h. „dulden“. Es ist offensichtlich, dass diese Haltung, die den monotheistischen Religionen, die ihrem Wesen nach auf der Exklusivität des Göttlichen beruhen, strukturell innewohnt, ein objektives Hindernis für die Kenntnis anderer Religionen und für die Aufnahme eines echten und fruchtbaren religiösen Dialogs darstellt, und auch in dieser Hinsicht erscheinen die Lehren der Antike heute wertvoll – in politicis wie in religiosis.
Kontakt zu den Autorinnen:
Daniela Bonanno, Università degli studi di Palermo (daniela.bonanno(at)unipa.it)
Corinne Bonnet, Scuola Normale Superiore di Pisa (corinne.bonnet(at)sns.it)
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